Warum vergeben Führungskräfte und Nachwuchskräfte oft unrealistisch hohe Bewertungen, obwohl klare Bewertungsmaßstäbe durch ein vorher erstelltes Anforderungsprofil vorgegeben sind? Genau das habe ich in einem aktuellen Projekt in einer sozialen Organisation erlebt. Hier sind meine Erkenntnisse.
Projektübersicht
Ich wurde von einer globalen Hilfsorganisation beauftragt, ein Talententwicklungsprogramm zu konzipieren. Gemeinsam mit dem Vorstand und anderen Stakeholdern entwickelten wir ein Kompetenzmodell mit 13 Teilkompetenzen für Nachwuchskräfte, bewertet auf einer Skala von 1 bis 12. Bewertungen zwischen 4 und 7 wurden als positiv angesehen; 9 bis 12 sollten für sehr fortgeschrittene Personen reserviert sein.
Die Herausforderung: Unrealistische Einschätzungen
Nach der Fertigstellung des Anforderungsprofils führten Führungskräfte und Talente Selbst- und Fremdeinschätzungen durch. Zu meiner Überraschung wurden die Talente meist über den definierten Bewertungsrahmen eingestuft, was sie als nahezu fertig entwickelt darstellte. Dieses Muster zeigte sich auch bei den Selbsteinschätzungen.
Geschlechtsunterschiede
Männliche Führungskräfte vergaben öfter Mittelwerte, während weibliche tendenziell höhere Bewertungen gaben. Dies könnte auf soziale Erwartungen und das Bedürfnis nach Harmonie zurückzuführen sein.
Austausch mit den Führungskräften über die Ergebnisse
Nachdem die Fragebogenergebnisse vorlagen, reflektierte ich mit den Führungskräften die Gründe für die positiven Bewertungen. Reaktionen reichten von “Ich habe die Skala nicht verstanden” bis “Meine Talente sind eben so gut”. Es schien, als wären alle in “Watte” gepackt, wodurch jeder als herausragend dargestellt wurde. Dies warf Fragen auf: “Wie gehen Sie mit Konflikten um? Wo zeigt sich die Realität hinter diesen Ergebnissen? Wo gibt es trotz der Erfolge Entwicklungspotenzial?” Die Diskussion war anspruchsvoll, aber wir konnten für jedes Talent Entwicklungsbereiche identifizieren.
Ursachen für unrealistische Bewertungen
Nach dem Austausch und Reflexion mit den Führungskräften über die positiven Bewertungen formulierte ich aus systemischer Sicht mehrere Hypothesen:
- Konfliktscheu und Harmoniebedürfnis: Im sozialen Bereich wird Harmonie großgeschrieben, wodurch Mitarbeitende sich und andere oft positiver bewerten, um Konflikte zu vermeiden.
- Angst vor negativen Reaktionen: Ehrliches Feedback wird oft als kritisch wahrgenommen, was Ablehnung und negative Reaktionen hervorrufen kann.
- Kultur der Höflichkeit und Zurückhaltung: Direkte und konstruktive Rückmeldungen gelten oft als unhöflich, was die Ehrlichkeit in Feedbackprozessen beeinträchtigt.
- Mangelnde Vertrautheit mit Feedbackprozessen: Viele sind nicht ausreichend mit Feedbacktechniken vertraut, was die Qualität der Bewertungen mindert.
- Fehlende Sicherheit und Unterstützung: Ohne das Gefühl, dass ihr Feedback konstruktiv aufgenommen wird, äußern Mitarbeitende ihre Meinungen nur zögerlich.
- Persönliche Unsicherheiten und Selbstzweifel: Persönliche Unsicherheiten können verhindern, dass sich Mitarbeitende offen in Feedbacksituationen äußern.
- Kulturelle Faktoren: Eine Unternehmenskultur, die Schwächen ungern thematisiert, führt zu übertrieben positiven Bewertungen.
- Anreize von oben: Unternehmensleitungsdruck kann unrealistische Bewertungen fördern, um ein positives Image zu wahren.
- Selbstwahrnehmung und Selbstwertgefühl: Mitarbeitende neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen, um ihr Selbstbild zu stärken.
- Unzureichendes Verständnis der Bewertungsskala: Trotz Kommunikation verstehen viele die Bewertungskriterien nicht richtig.
- Gruppenkonsens oder sozialer Druck: Gruppendynamiken führen oft dazu, dass sich Mitarbeitende dem Konsens anschließen und positive Bewertungen abgeben.
Nachdem ich die möglichen Ursachen formuliert hatte, war mir klar, dass diese komplexen sozialen, psychologischen und organisatorischen Faktoren die Bewertungen stark beeinflussten. Es ist daher essenziell, diese zugrunde liegenden Faktoren zu identifizieren und anzugehen.
Maßnahmen für realistischere Bewertungen
- Klare Kommunikation der Bewertungskriterien: Alle müssen die Funktionsweise und Bedeutung der Skala verstehen.
- Sensibilisierung für ehrliche Einschätzungen: Die Bedeutung realistischer Bewertungen muss vermittelt werden.
- Förderung einer offenen Feedbackkultur: Eine Kultur der offenen Kommunikation und konstruktiven Rückmeldung ist notwendig.
- Regelmäßige Überprüfung der Bewertungssysteme: Systeme sollten auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und angepasst werden.
- Pilotprojekte und Testläufe: Diese helfen, Schwachstellen frühzeitig zu identifizieren und anzupassen.
In all meinen Jahren beruflicher Erfahrung habe ich so etwas noch nie erlebt. Deshalb ist es umso wichtiger, zukünftig Maßnahmen zu ergreifen, um realistischere und aussagekräftigere Bewertungen zu fördern. Ehrliche Bewertungen sind entscheidend, um das Entwicklungspotenzial von Nachwuchstalenten zu erkennen und zu fördern. Unrealistische Einschätzungen führen dazu, dass Entwicklungsfelder übersehen werden und das Kompetenzmodell an Aussagekraft verliert.